Alice Herz Sommer, die älteste bekannte Holocaustüberlebende, ist am 23.02.2014 gestorben. Im letzten Jahr erst hatte ich sie entdeckt. Sie war die Mitbewohnerin einer Überlebenden, die ich betreue. Als ich von ihr hörte, war ich sofort neugierig, mehr von ihr zu erfahren und kaufte ihre Biographie. Sie führte ein bemerkenswertes Leben und noch erstaunlicher waren die Schlüsse, die sie aus allem gezogen hat und ihre Lebenseinstellung, die sie wohl durch all die Jahre und auch durch die schwierigen Zeiten hindurchgetragen hat.
Was hatte eine Frau zu berichten, die 110 Jahre gelebt hat?
Sie wurde in Prag geboren 1903. Sie wuchs mit fünf Geschwistern auf. Es handelte sich um eine hoch-intellektuelle Familie, die unter anderem mit Franz Kafka befreundet war. Die Leidenschaft, die Alice schon früh entdeckte, war die Musik. Sie startete als Kind und übte Stunden über Stunden jeden Tag. Im Elternhaus gab es oft Konzerte, zu denen viele ihrer Freunde kamen. Sie spielte von ganzen Herzen gerne und lernte ein Stück, nach dem anderen auswendig. Sie wurde bald von einem bekannten Lehrer unterrichtet und gab ihr Debüt in Prag. 1931 heiratete sie Leopold Sommer, ebenfalls ein begabter Musiker. Sie bekamen einen Sohn – Stephan. Bald darauf begannen die antijüdischen Gesetze in Kraft zu treten. Alice, die Klavierunterricht gab, durfte keine Arier mehr unterrichten. Ihr Mann bekam ebenfalls Berufsverbot und ein Teil der Familie reiste nach Palästina aus. Das Geld reichte nicht für alle, um das Land zu verlassen. Alices Mutter wurde 1942 abtransportiert. Ein Schicksalsschlag für Alice. Sie konnte nicht mehr spielen und fiel in eine tiefe Verzweiflung. Keiner war in der Lage ihr zu helfen. Eines Tages irrte sie durch die Straßen Prags, da hörte sie plötzlich eine innere Stimme: „Übe die 24 Etüden – das wird dich retten!“ Chopins Etüden sind an der Grenze des Spielbaren und kaum jemand wagte sich daran, alle Etüden in einem Konzert zum Besten zu geben. Lediglich eine Auswahl davon. Alice übte nun täglich, über Stunden, die Etüden von Chopin. Sie wurde mit ihrem Mann im Juli 1943 nach Theresienstadt abtransportiert. Theresienstadt war ein Vorzeigelager und wurde für Propagandafilme verwendet. Daher gab es auch eine Abteilung „Freizeitgestaltung“, im Zuge dessen ließ man Insassen Konzerte, veranstalten.
Das rettete Alice und ihrem Sohn das Leben.
Sie spielte viele Konzerte. Unter anderem gab sie Konzerte, in denen sie alle 24 Etüden von Chopin spielte. Überlebende berichteten über diese Konzerte: „Sie hat uns durch die Musik aus der Realität des Lagers entrissen und in den Himmel versetzt.“ Auch ihr Sohn war sehr musikalisch und spielte in der Kinderoper „Brundibar“. Ihr Mann wurde von Theresienstadt nach Ausschwitz gebracht. Zum Abschied musste sie ihm versprechen, sich nicht freiwillig zu melden, um ihm nachzukommen. Die Deutschen verschickten erst die Männer und gaben danach den Frauen die Gelegenheit, sich freiwillig zu melden, um mit ihren Männern wieder vereint zu werden. Viele Frauen meldeten sich, in der Hoffnung auf ein Wiedersehen, aber sie sollten ihre Männer nie wieder sehen und fanden ebenso den Tod, wie diese. Alice meldete sich nicht – sie hörte auf ihren Mann und hielt ihr Versprechen und blieb am Leben.
Nach dem Krieg ging sie zurück nach Prag. Das Leben dort war nicht mehr was es war und noch immer gab es Feindschaft gegen die Juden, die zurückkamen. Da sich ein Teil der Familie in Israel befand und ihre Schwester darauf drängte, wanderte sie 1949 nach Israel aus. Samt ihren Steinway-Flügel. Sie lebte viele Jahre in Jerusalem. Ihr Sohn wurde ein erfolgreicher Cellist. Er ging in späterer Folge nach London. Alice folgte ihm, im Alter von 85 Jahren. Mittlerweile waren ihre Geschwister in Israel gestorben. Sie hatte nicht mehr geheiratet und der Abschied von Israel fiel ihr schwer. Jedoch wollte sie mit ihrem Sohn und ihren Enkelkindern zusammen sein. Seither lebte sie in London, in einer kleinen Wohnung. Ihr Sohn ist vor einigen Jahren gestorben. Sie sagte: „Das einzige Mal, das mein Sohn mir Kummer bereitete, war, als er starb.“ Sie spielte bis zum Schluss immer noch, mehrere Stunden, jeden Tag, auf ihrem Klavier.
Hier ein paar Aussprüche von Ihr – aus dem Buch:
„Ich gebe die Hoffnung niemals auf“
(Hundert Jahre Weisheit aus dem Leben von Alice Herz Sommer)
„Ein Sinn für Humor hält uns in allen Lebenslagen im Gleichgewicht,
selbst wenn wir mit dem Tod konfrontiert sind.“„Jeder Tag ist ein Wunder. Egal wie schlecht meine Lebensumstände sind – ich habe die Freiheit, meine Einstellung zum Leben zu wählen und Freude darin zu finden. Es liegt an uns, wie wir mit dem Guten und dem Schlechten umgehen. Niemand kann uns diese Macht entreißen.“
„Angst lässt uns kapitulieren, Mut gibt uns eine Chance.“
„Liebe die Arbeit! Wenn du deine Arbeit liebst, ist dir nie langweilig.
Langeweile ist ungesund.“„Ich habe gelernt, mit Hoffnung voran zu gehen.“
„Erst im hohen Alter, erkennen wir die Schönheit des Lebens.“
„Wir brauchen keine Dinge, Freunde sind wertvoll.“
„Dankbarkeit ist unbedingt notwendig, um glücklich zu sein.“
„Sei freundlich. Freundlichkeit kostet dich nichts, und jeder zieht Gewinn daraus.“
„Lachen ist wunderbar. Es macht dich glücklich und die anderen auch.“
„Hass frisst die Seele des Hassers, nicht des Gehassten“.
„Verlange niemals zu viel im Leben. Es genügt, wenn du ein wenig mehr hast, als du brauchst. Wenn du stirbst, kannst du nur das, was du anderen Menschen gegeben hast, mitnehmen.“
Ihre Lebensanschauung und Einstellung waren bemerkenswert. Vielleicht hat ihr gerade ihre einfache und liebenswerte Art, ihre Gutherzigkeit und Freude an allen Dingen so ein langes Leben beschert.
Es war ein bisschen traurig zu hören, dass sie gestorben ist, aber andererseits, was könnte man sich mehr wünschen, als ein erfülltes Leben bis ins hohe Alter, um dann ruhig und friedlich eines Nachts die Augen für immer zu schließen. Gewiss hat sie einen reichen Schatz in der kommenden Welt, denn sie hat so vielen Menschen durch ihre Musik Freude geschenkt und selbst ins Lager ein Stückchen Himmel gebracht.
Ihr Andenken sei reich gesegnet.
Im letzten Jahr ist noch ein Dokumentarfilm von ihr erschienen, der gerade einen Oscar gewonnen hat in der Kategorie „Bester Kurzdokumentarfilm“.
„The Lady in Number 6“ – hier der Trailer und danach noch ein Zusammenschnitt an Interviews der zu einem früheren Zeitpunkt entstanden ist (Englisch).
Headerbild – Quelle: Biographie “Ein Garten Eden inmitten der Hölle”: Ein Jahrhundertleben
© Sabine Bruckner
Ich hatte davon gelesen, aber die ganze Geschichte (in kurz) kannte ich nicht.
Extrem interessant!
Ihr Leben is mehr als interessant und auch ihre Einstellung zu allem – es lohnt sich sehr ihre Biographie („Ein Garten Eden inmitten der Hölle“: Ein Jahrhundertleben) zu lesen. Freut mich jedoch, das dir meine kurze Zusammenfassung gefallen hat. Sie ist wirklich eine außergewöhnliche Frau gewesen.
Deine Zeilen machen total neugierig auf die Biographie von dieser äußerst bemerkenswerten Frau!
Ich kann nur empfehlen die Biographie zu lesen! Obwohl ich wenig Zeit habe zu lesen, habe ich dieses Buch auf einen Schlag durch gelesen. Eines der Bücher die man einfach nicht aus der Hand legen kann. Eine faszinierende und unglaubliche Lebensgeschichte.
vielen Dank für den Tipp !!!
Diese Biographie werde ich lesen, deine Zusammenfassung hat neugierig gemacht.
Schön zu hören und es lohnt sich auf alle Fälle ihr Buch zu lesen – Wünsche dir viel Freude dabei! Lg, Sabine