Eines Abends, als ich Inge, eine der Holocaustüberlebenden, die ich betreute, zum Scrabble spielen traf, kam sie mir schon freudestrahlend entgegen. Sie zeigte mir eine Zeitschrift und darin einen Artikel. Einen Bericht über eine Frau, die Betty Rand-Schleiffer hieß. Das allein war noch nicht so ungewöhnlich. Dann zeigte sie auf einen Namen unten in der Ecke – der ihrer war …
Wie kam es dazu? …
Sie erzählte mir, dass sie Betty vor einigen Jahren kennengelernt hatte und sie sich angefreundet haben. Sie war eine eigenwillige Person und lebte eher zurückgezogen, aber die beiden verstanden sich gut. Inge schenkte sie Vertrauen und sie verbrachten viel Zeit miteinander.
Betty wurde in Frankfurt geboren und war als Lehrerin in Polen tätig, bis sie 1939 mit ihrem Mann nach Palästina auswandern konnte. Hier im Land war sie auch als Erzieherin tätig. Sie liebte den Lehrberuf und unterrichtete mit Freude und Hingebung. Sie lernte Martin Buber in Frankfurt kennen und bewunderte ihn sehr. Jede ihre Unterrichtsstunden soll ein Erlebnis gewesen sein. Später brachte sie behinderten Kindern mit Geduld und Hinwendung die hebräische Sprache bei. Auch interessierte sie sich im späteren Leben für schöpferische Tätigkeiten und lernte unter anderem Weberei.
Inge erzählte mir, dass sie auch Gedichte geschrieben hatte, die sie aber nie jemandem zeigte. Da sie jedoch Vertrauen zu Inge hatte, durfte sie eines Tages ihre Werke mit nach Hause nehmen, um sie zu lesen. Inge war begeistert von ihren Gedichten und kopierte sie, ohne es Betty zu sagen. Betty war nicht der Ansicht, dass ihre Gedichte einen Wert hätten und andere etwas daran finden könnten. Inge jedoch sah den Wert und die Schönheit in ihren Worten. Als Betty verstorben war, entschied sich Inge, dass ihre Gedichte nicht verloren gehen sollten. Sie schickte sie an verschiedene Stellen und so wurde schließlich ein Artikel herausgegeben, der ihre Lebensgeschichte sowie viele ihrer Gedichte enthielt. Inge schenkte mir ein Exemplar dieser Zeitschrift und freute sich sehr über die Veröffentlichung. Ich denke dazu hatte sie allen Grund!
Ich sagte ihr: „Du bist wie Max Brod nur für Betty geworden“. Denn Kafka gab seinem Freund den Auftrag, alle seine Schriften zu verbrennen. Der ist diesem Wunsch nicht nachgekommen und so sind uns seine Werke erhalten geblieben und zu einem Stück Weltliteratur geworden. Bettys Gedichte wären verloren gegangen ohne eine Freundin wie Inge.
Es ist wirklich gut, solche Freunde zu haben.
Öfters sehen wir selbst den Wert in den Dingen nicht, aber…
Das Auge eines Freundes sieht manchmal mehr.
Hier eine kleine Auswahl von Bettys Gedichten:
© Sabine Bruckner