Die Briefe ihrer Mutter

Zur Erinnerung an Ester Golan
gestorben 7. April 2013
Z“L – זיכרונה לברכה

Ich möchte euch heute von Ester Golan erzählen, die genau an diesem Tag, vor einem Jahr verstorben ist. Sie war eine der Personen in meinem Leben, von denen ich am meisten gelernt habe und die mich allein durch ihr Vorbild sehr beeinflusst haben. Als ich das erste Mal in ihre Wohnung kam, fielen mir sofort die vielen Bilder an den Wänden auf. Es stellte sich heraus, dass sie alle selbst gemalt hatte. Das war mir natürlich sofort sympathisch, da ich auch selber male.

Wie soll man am besten anfangen über Ester zu erzählen? Ein Buch würde nicht ausreichen, sie gebührend darzustellen. Also zurück zu unserer ersten Begegnung. Sie  zählte zu den Menschen, die offen auf alle zugehen. Verständigung war ihr wichtig. Sie war sehr aktiv. Die Geschichte ihrer Familie zu erzählen, lag ihr am meisten am Herzen. Sie hielt viele Zeitzeugengespräche und erzählte vor Touristengruppen, Schulklassen, Soldaten, Volontären und vielen anderen ihre Geschichte. Sie hielt manchmal mehrmals in der Woche Vorträge und schrieb auch Artikel. Sie veröffentlichte ein Buch mit den Briefen ihrer Mutter. Eines der ersten Dinge die Ester tat war, mich zu einem ihrer Vorträge einzuladen, denn auch ich sollte ihre Geschichte hören.

Auszug: Klappentext „Auf Wiedersehen in unserem Land„:

März 1939, Berlin, Bahnhof Zoo. Zwölf jüdische Mädchen und Jungen und ihr 19jähriger Begleiter brechen nach Wittingehame/Schottland auf. Es gelingt ihnen, mit einem der letzten von zahlreichen Kindertransporten gerade noch rechtzeitig Nazideutschland und dem Holocaust zu entkommen. Der Preis ist hoch. Sie müssen sich von Eltern und Geschwistern und ihrer vertrauten Umgebung für ungewisse Zeit trennen. Unter diesen Kindern ist auch die 15-jährige Ursula Dobkowsky, heute Ester Golan. Nur das Bewußtsein, dass es keinen anderen Ausweg gibt, brachte ihre Eltern dazu, sich von ihrem über alles geliebten Kind zu trennen. Ihre größte Sorge ist und bleibt das Wohlsein ihres Kindes. Die Briefe, die nun die Mutter, so oft es geht, an ihre heranwachsende Tochter schreibt, bieten Einblick in die großen Qualen und Sorgen, die die zurückgebliebenen Eltern bewegen. Trotz der großen Entfernung ihrer Tochter stets hilfsbereit beizustehen, sich an ihrer Entwicklung und ihrem täglichen Leben zu beteiligen und ein inniges Familienverhältnis aufrechtzuerhalten ist ihr großes Bestreben.
1942 werden die Eltern nach Theresienstadt deportiert. Der für Ester Golan so wichtige Gedankenaustausch wird jäh beendet, vereinzelt erreichen sie über Umwege noch Mitteilungen und letzte Lebenszeichen. Ester Golan hat alle Briefe gesammelt und aufgehoben. In „Auf Wiedersehen in unserem Land“ werden sie erstmals – eingebettet in ihre eigene Lebensgeschichte – einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Nachfolgend einige Bilder, entnommen aus ihrem Buch:
Auf Wiedersehen in unserem Land

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Ihr Leben war ein schweres und geprägt von Verlust und Trennung, vor allem von ihrer Mutter. Wie schwer muss es für ein Kind sein, das Elternhaus zu verlassen und alleine in einem fremden Land zu leben und alles alleine meistern zu müssen, kaum vorstellbar. Doch Ester hat es gemeistert und ihr größtes Anliegen war es, anderen ihre Geschichte näherzubringen. Die Geschichte einer jüdischen Familie. Verständigung zwischen den Menschen, zwischen Juden, Christen und Moslems, zwischen Deutschen und Israelis, war ihr ein Herzenswunsch. Hier ein Text von Ester über Begegnungen mit dem anderen und ein Artikel, einer Bloggerin die über ihre Begegnung mit Ester berichtet und die Frage, um die sich am Ende alles drehte: Das Glas – ist es …

In den letzten Wochen ihres Lebens hat sie sich sehr mit ihrer Mutter befasst. Sicher tat sie das ihr Leben lang, jedoch erst am Ende ihres Lebens, mit beinahe 90 Jahren, wurde ihr bewusst, dass ihre Mutter eine Heldin war. Ester betrachtete ihre Geschichte immer von ihrer Sicht aus und dann erst sah sie, welch eine Heldentat es von ihrer Mutter war, alle ihre Kinder wegzuschicken – den Bruder nach Palästina und die Töchter nach England. Die Eltern selbst sind allein zurückgeblieben, weil kein Land sie aufnehmen wollte – was am Ende ihren Tod bedeutete.

Einige Wochen bevor Ester starb war ich bei ihr und sie war schon aufgeregt, sie hatte etwas geschrieben und wollte meine Meinung dazu hören. Sie gab mir immer ihre Texte zu lesen und erwartete ehrliche Kritik. Auch sie las meine Texte und merkte dazu an, was ihr gefiel oder nicht gefiel. Jedenfalls an diesem Tag hatte sie ein Gedicht geschrieben, ein Gedicht über ihre Mutter:

Meine Mutter.

Eine wahre Heldin meine Mutter war,Ima
Ihr zu verdanken bin ich da.
Meine Mutter eine wahre Heldin.

Ihre geliebten Kinder drei,
Leben sollen sie,
Auch wenn allein.
Anstatt ihrer am Leben bleiben,
Im Land ihrer Traeume.

Schweren Herzens trennt sie sich,
Von Sohn, Tochter und der Kleinen,
Die noch so jung  und rein sind.
Tag und Nacht weinent,
Das Herz meiner Mutter zerbrach.

Doch des jüdischen Volkes bedacht,
Kein Ausweg gabs.
Als ihre Pflicht sie sah’s.
Das Leben zu retten,
Ihrer Kinder drei.

Eine wahre Heldin meine Mutter war.

Ihre Mutter war eine Heldin, eine von vielen Müttern, die ihre Kinder in Züge setzten um ihnen das Leben zu retten. Auch Ester war eine Heldin. Sie  selbst hätte das nie zugegeben.

Sie war aktiv, bis zum Schluss. Obwohl sie krank war und sicher viele Schmerzen ertragen musste, beklagte sie sich fast nie. Sie hielt weiter Vorträge und wir waren sogar gemeinsam an einem Fernsehbeitrag beteiligt. Dieser wurde einige Wochen vor ihrem Tod gedreht und sollte zum Holocaustgedenktag ausgestrahlt werden. Man hatte uns stundenlang gefilmt. Ester war schon oft im Fernsehen und an solche Dinge gewohnt – für mich war es spannend und neu. Sie sagte von Anfang an: „Wirst sehen, die machen jetzt einen großen Aufwand und am Ende werden dann 1-2 Minuten dabei herauskommen.“ Tja, wie recht sie haben sollte!

Wir planten dann noch ein Dramatheaterstück, das aufgeführt werden sollte und sich mit dem Thema „Trennung“ befasste. Doch dann ging es ihr plötzlich schlechter.

Eines Tages kam ich zu ihr und sie lag im Bett. Wir führten ein Gespräch, das ich wohl nie vergessen werde. Ein Gespräch zwischen Freunden, über das Leben und dessen Inhalt, über Bedeutung und Familie, über Bleibendes und Vergängliches, über die Dinge, die einen Wert haben und über die Liebe und über das Malen.  Sie malte jeden Donnerstag ein Bild. Sie sagte:

Du musst dir die Zeit nehmen für die Dinge die du liebst,
sonst verstreicht sie einfach.

So hatte sie gezielt einen Tag ausgesucht und sich die Zeit genommen, um zu malen. „Alle Bilder an der Wand sind Donnerstagsbilder“, sagte sie. Es gibt vieles, das sie gesagt hat, von dem man lernen kann. Sie hat ihre Zeit immer ausgekauft und war aktiv bis zum Schluss, unermüdlich darin, anderen zu helfen und ihre Geschichte zu erzählen.

Ester starb einen Tag vor Jom HaShoa, dem Holocaustgedenktag. Das Gespräch an ihrem Bett, sollte unser Letztes werden. Es war uns wohl nicht bewusst zu diesem Zeitpunkt und doch hatten wir beide eine Ahnung, dass es ein Abschied war.

Ihr Begräbnis fand einen Tag, bevor unser Interview im Fernsehen ausgestrahlt wurde, statt. Hier in Israel geht alles sehr schnell. Sie war am Morgen gestorben und schon am selben Tag wurde sie begraben. Es gibt hier ein Gesetz, dass ein Toter nicht über Nacht liegen darf – vor allem nicht in Jerusalem. Obwohl sie nie wollte, dass viele Leute zu ihrem Begräbnis kommen, haben sich doch unzählige Freunde und Bekannte eingefunden. Ihr Leben hat viele Leute beeinflusst und sie war eine Hilfe für unzählige Menschen.

Ich selbst bin mehr als dankbar, dass ich die Gelegenheit hatte, sie kennenzulernen und sie in ihren letzten Monaten zu begleiten.
Wir haben viel miteinander erlebt und auch viel miteinander gelacht. Sie war mir mehr als nur eine Freundin – ein Edelstein in meinem Leben. Sie hat auch einen wesentlichen Anteil daran, das es heute diesen Blog gibt. Sie hat mich immer ermutigt zu schreiben und war eine begeisterte Leserin meiner Texte, was mich sehr freute und mir eine Ehre war.
Ihre beiden Bilder, über die wir bei unserem letzten Gespräch gesprochen haben, hängen nun an meiner Wand und sie sollen immer einen Ehrenplatz haben in meinem Haus.
Sie selbst wird immer einen Ehrenplatz in meinem Herzen haben.

Ihr Andenken sei gesegnetZ“L – זיכרונה לברכה

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Hier könnt ihr den Fernsehbeitrag sehen, der am Jom HaShoa auf Arutz 2, in den Hauptnachrichten ausgestrahlt wurde. (Ester und ich sind ab min 2:30 zu sehen):

 

Headerbild: Bild gemalt von Ester Golan – Ihre Mutter beim lesen der Briefe.

Ein Dank  an Dan Golan, der das Gedicht „Meine Mutter “  gefunden und mir gemeinsam mit den Bildern  zur Verfügung gestellt hat.
תודה רבה

© Sabine Bruckner

9 Gedanken zu “Die Briefe ihrer Mutter

    • Da freu ich mich schon drauf! 😉 – ja das Buch ist toll und ihre Geschichte auch sehr bewegend. Leider ist das Buch vergriffen und man bekommt es nur noch schwer. Es wäre wert neu herausgegeben zu werden, aber zum Glück kann man es online lesen. Wünsch dir noch einen ganz schönen Tag. Lg, Sabine

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