Meet #Hilde

Oktober 2008

Herzlich willkommen im neuen Jahr und bei unserem ersten „Meet“ in diesem. Den Start machen wir mit Hilde. Sie gehört zu einer Gruppe von Menschen, deren Leben miteinander verwoben ist, in Schicksal und Freundschaft. Ein befreundetes Ehepaar, Zwi und Regina Steinitz, hat uns eingeladen, mit ihnen den Kibbuz Netzer Sereni zu besuchen. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass Zwi einer der Mitgründer des Kibbuzes war. Er wurde gegründet von Überlebenden, die sich im Konzentrationslager Buchenwald zusammengefunden und das Leben im Kollektiv beschlossen hatten. Ursprünglich nannten sie ihn Kibbuz Buchenwald. Später wurde er umbenannt in Netzer Sereni.

Dort angekommen, wurden wir von einem fröhlich gesinnten Ehepaar empfangen. Hilde und Piese Zimche erwarteten uns bereits und bereiteten uns einige Leckereien auf ihrer Terrasse zu. Wir begrüßten sie herzlich und nahmen in ihrem Garten Platz. Die Paare tauschten einige Neuigkeiten aus und als ich mich so umsah, fielen mir plötzlich die Nummern auf. Nur ich und Regina saßen dort ohne Nummer auf dem Unterarm. Mein Blick fiel unweigerlich auf Pieses Arm, seine Nummer war mindestens fünfmal so groß wie die der anderen. „Weißt du“, sagte er, „je nach dem, wie die Laune der Tätowierer war“, und strich sich über die Nummer, die er schon so viele Jahre mit sich trägt.

Nachdem die allgemeinen Neuigkeiten ausgetauscht waren und wir zufrieden unseren Kaffee schlürften, nahm Zwi´s Frau Regina die Gelegenheit war und erwähnte, ganz beiläufig, dass Hilde im Mädchenorchester in Ausschwitz Birkenau war. Ich war sprachlos im ersten Moment. Wie unfassbar, jemanden zu treffen, der dort war und Teil des Orchesters unter Alma Rosé, der Nichte Gustav Mahlers.

Hilde stammte wie Regina aus Berlin. Regina und ihre Zwillingsschwester Ruth waren im jüdischen Kinderheim in der Fehrbelliner Straße in Berlin und überlebten den Krieg versteckt. Fast alle Kinder des Heimes wurden ermordet. Zwei Mädchen, Freundinnen von Regina und Ruth, Carla und Sylvia Wagenberg, wurden ebenfalls deportiert. Die Mädchen lernten Hilde auf dem Transport von Berlin nach Ausschwitz kennen. Hilde wurde als erste ins Orchester aufgenommen, da sie als Kind Geige gelernt hatte. Sie schaffte es, dass auch Carla und Sylvia aufgenommen wurden. Diese konnten so dem mörderischen Arbeitskommando entkommen und überleben. Hilde spielte nur kurz Geige und als sie nicht mehr spielen konnte, transkribierte sie Noten. Sie hatte auch noch ihren kleinen Besitz bei sich im Lager, eine Ausgabe von Goethes Faust, einen Rilke, Lockenwickler (die sie sich geschnitzt hatte), einen Füllfederhalter, den ein Lagerkommandant ihr zum Transkribieren überlassen hatte, und ein Samtkästchen. Alma hatte ein Auge auf Hilde und beschützte sie.

Als Hilde 1945 bereits vor dem Viehwaggon zum Abtransport nach Bergen-Belsen stand, drehte sie um und lief zurück zum Lager, um ihre Sachen zu holen, die noch in der Baracke waren. Sie wurde später gefragt, wie sie so mutig sein konnte, zurück zum Block zu laufen. Ihre Antwort darauf war immer, dass das Leben dort ohnehin nichts wert war, sie sich aber zumindest etwas erhalten wollte. Dazu gehörten ihre Gedichte, Faust und die Lockenwickler. All die Gegenstände, die ihr durch die Zeit halfen, konnte sie retten. Diese befinden sich heute in der Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem. Noch heute befindet sich in ihrem Besitz auch das Notizbuch von Alma Rosé, an dem sie sehr hängt. Darin findet sich eine Komposition von Alma, ein Lied das nur im Geheimen gespielt wurde. Dieses findet ihr bald „Hinter der Tür #17“.

Bildquelle: Yad Vashem, Jerusalem

Hilde kam 1946 nach Israel, heiratete Piese und sie bekamen zwei Kinder. Sie war Mitgründerin des Kibbuz Netzer Sereni und sie fasste nie wieder eine Geige an.

Man sah, wie sehr Regina berührt war, als sie sagte: „Hilde hat zwei Leben gerettet.“ Die Frauen waren über viele Jahrzehnte in Israel befreundet. Man sprach sehr lange nicht über die Zeit im Lager, auch nicht über das Orchester, man schämte sich, weil man es „einfacher“ hatte als andere. Sie bekamen etwas mehr zu essen und sie durften auch ihre Haare behalten. Sylvia Wagenberg erzählte ihre Lebensgeschichte erst 2003 als Sterbenskranke und diktierte diese ihrer Freundin, Regina Steinitz. Sie war es, die für die Veröffentlichung sorgte und in ihren Armen starb sie auch.

Das Telefon unterbrach unser Gespräch und als Piese zurück kam, kündigte er noch einen Besucher an. Hilde und Piese scherzten miteinander und wirkten sehr zufrieden und glücklich. Sie waren nun schon über 60 Jahre verheiratet. Was für eine lange Zeit! Was für ein Leben und wie schön zu sehen, wie sie sich immer noch neckten und liebten. Da kam auch schon nicht viel später ein Herr ums Eck spaziert und brachte Piese etwas vorbei. Er grüßte freundlich und irgendwie ging von ihm eine besondere Ausstrahlung aus, zumindest kam es mir so vor. Ich bemerkte, auch er hatte eine Nummer auf dem Unterarm tätowiert. Regina flüsterte mir zu: „Das ist Simcha Appelbaum, auch er hat eine ganz besondere Geschichte.“ Kurz nachdem er gegangen war, verabschiedeten auch wir uns.

Was für ein interessanter Besuch das war! Wer mehr von Hilde hören möchte, hat hier die Gelegenheit dazu. Dieses Interview ist im letzten Jahr entstanden:

Interviewquelle: Die Geige rettete ihr das Leben – Israel heute

Mehr zu ihrem Mann Piese, Regina und Zwi Steinitz, Simcha Appelbaum, Reginas Zwillingsschwester Ruth und ihrem Mann Simcha Malin und noch vielen vielen anderen findet ihr demnächst hier bei „Meet“

© Sabine Bruckner

20 Gedanken zu “Meet #Hilde

  1. Diese Schicksale berühren mich sehr.
    Meine Großeltern(schon lange verstorben) haben jüdische Nachnamen und ich habe keine Ahnung, was mit ihren Vorfahren war. Mein Opa reiste viel herum, als es um die „Arier“nachweise ging. Obwohl ich intensiv Ahnenforschung betrieben habe, konnte ich nichts über diese Linie heraus finden. Ich fand nur andere Menschen mit demselben Nachnamen, die genau so ergebnislos suchten.

    • Es ist wirklich sehr schwer zum Teil Genaueres rauszufinden. Vieles ist leider auch verloren gegangen. Meine Mutter beschäftigt sich auch sehr stark mit Ahnenforschung und hat über „MyHeritage“ sehr viel gefunden. Dort gibt es Zugriff auf viele Archive und Datenbanken. Manches jedoch wird fürchte ich auch nicht mehr zur Gänze rekonstruierbar sein. Wünsche dir trotz allem viel Erfolg vielleicht noch das eine oder andere rauszufinden. Manchmal taucht auch plötzlich irgendwo etwas auf und bringt einem auf die richtige Spur. Liebe Grüße, Sabine

      • Danke, bei MyHeritage bin ich angemeldet und habe unglaublich viel über die väterliche Linie erfahren. Die mütterliche Linie ist vermutlich aufgrund des jüdischen Namens in (christlichen) Kirchenbüchern nicht zu finden. Aber wenn es wichtig ist, wird uns das Richtige finden.
        Liebe Grüße, Marie

      • Oh dann kennst du das ja schon. Mit (christlichen) Kirchenbücher kommt man da nicht so gut weiter, das stimmt. Meine Mutter hat vor kurzem einige Fotos gefunden und zum Glück hatte jemand fein säuberlich darauf einige Infos hinterlassen, die den entscheidenden Hinweis gaben. So fanden wir dann einen ganzen Zweig. Der führte dann nach Tschechien und mit der tschechischen Schreibweise des Nachnames hat sie plötzlich einiges gefunden. Hoffe dir flattert auch noch der entscheidende Hinweis ins Haus. Wie du sagst, wenn es sein soll wird sichs finden.
        Liebe Grüße, Sabine

  2. wunderbar Sabine, dieser Beitrag hat mich sehr berührt. Kannst Du mir Deine Emailadresse schicken, bitte! ich möchte Dich etwas fragen. Wünsch Dir einen guten Rutsch!!

  3. Du scheinst das ja vielleicht schon „gewohnt“ zu serin, aber was macht das wohl das erste Mal mit einem, wenn man diesen lieben aufgeschlossenen Menschen gegenübersitzt, deren Arme mit den „bekannten“ Nummern tätowiert sind? Und die Scham darüber empfinden, daß sie es ‚einfacher‘ hatten?
    Lieben Dank Dir auf jeden Fall, liebe Es, und gehab Dich wohl, El

    • Lieber El, für mich war das auch neu, es war mir genauso wenig bewusst wie die Tatsache, dass viele Jahrzehnte einfach nicht darüber gesprochen wurde. Die Scham auch, dass man es „einfacher“ hatte oder auch, dass man überhaupt überlebt hatte und soviele andere nicht. Manchmal auch einzelne aus einer enorm großen Familie, die alleine überlebt hatten und sich immer fragten – warum gerade ich. Ich denke, es ist für uns nicht fassbar, was es bedeutet, das alles erlebt zu haben und es überlebt zu haben.
      Herzliche Grüße, Sabine

  4. Liebe Sabine , danke für diesen Artikel und das Video über Hilde. Ich habe es erst jetzt entdeckt. ich staune noch immer und immer wieder, wie Menschen mit so einem Leben überhaupt den Willen hatten, weiterzuleben, es ist für mich trotz allem. was ich selbst gelesen gehört und gesehen habe nichtselbstverständlich, Danke und Shabbat Shalom……

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