Oktober 2008
Nun ist es endlich soweit und es geht weiter in der Kategorie „Meet“. Heute mit Zahava und Ruth, die ich schon einmal kurz erwähnt habe, in meinem Beitrag zum „Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust“. Wie dort erwähnt, sollten wir sie zum Essen treffen und sind mit den beiden Freundinnen vom Treffpunkt aufgebrochen – in ein schönes Café in Tel Aviv.
Die Atmosphäre in Tel Aviv hat etwas Entspanntes, die Sonne, die Wärme und die leichte Brise vom Meer begleiten einen dort fast täglich. Das bunte und lebhafte Treiben der Stadt und das offene und kommunikationsfreudige Wesen seiner Einwohner beeindruckten mich sehr und zogen mich in seinen Bann. Es hat einen Charme, dem man schwer widerstehen kann. Die beiden Freundinnen haben natürlich ihre Lieblingsplätze in der Stadt und wir sind in den Genuss gekommen, einen davon kennenzulernen.
Zahava und Ruth sehen sich fast täglich. Sie wohnen sehr nahe zueinander und sind beste Freundinnen. Sie genossen sichtlich die Gesellschaft der anderen und freuten sich, uns etwas zeigen zu können. Die Frauen, die sich nun schon über Jahrzehnte kannten, hatten sich unter den widrigsten Umständen kennengelernt. Im KZ Bergen–Belsen trafen sie das erste Mal aufeinander. Sie erlebten die Befreiung gemeinsam und schlugen sich seither gemeinsam durch.
Ruth erzählte, dass sie im KZ Ravensbrück war, mit unzähligen anderen Frauen. Sie berichtete, dass man ihnen dort Spritzen gab, die zur Folge hatten, dass sie keine Periode mehr bekamen. Sie waren wie Versuchskaninchen und man tat ihnen Unbeschreibliches an. Man wollte verhindern, dass sie sich jemals wieder fortpflanzen. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt schon vieles gehört und gelesen über all das, was in den Lagern passierte. Davon hörte ich an diesem Tag zum ersten Mal. Zahava war in einem Konzentrationslager gewesen, von dem ich auch noch nie gehört hatte und landete wie Ruth eines Tages in Bergen-Belsen. Auch sie berichtete von Drogen, die ihnen unters Essen gemischt wurden und welche Auswirkungen diese auf sie hatten. Als sie nach dem Krieg frei und endlich in Israel waren, heirateten sie und wollten Familien gründen. Durch die Spritzen und die Drogen hatten sie es sehr schwer und konnten nicht schwanger werden. Bei Zahava dauerte es 10 Jahre, bis sie endlich die Freude der Mutterschaft erleben konnte. Ruth erzählte, dass viele Frauen, die ebenso diese Spritzen oder Drogen bekommen hatten, nie mehr im Stande waren, Kinder zu bekommen. Man hatte ihnen nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Zukunft genommen.
Sie erzählten angeregt und die Zeit verging wie im Flug und näherte sich viel zu schnell schon dem Ende entgegen. Ruth hatte auch noch einen Termin und wollte noch zum Yoga. „Es ist wichtig, sich fit zu halten“, sagte sie und neckte ihre Freundin etwas, die vom Sport nicht so viel hielt. Noch kurz zum Frisch-machen und dann sollten wir bald los. Da ging ich doch gerne mit. Unter vier Augen, ganz unerwartet, bedankte sich Ruth plötzlich bei mir für das Interesse und das Zuhören. „Weißt du“, sagte sie, „hier möchte keiner mehr die alten Geschichten hören, jeder hat ja sein eigenes Paket zu tragen. Es war schön, erzählen zu können. Es hilft schon sehr, dass jemand zuhört. Ich danke dir!“ Sie umarmte mich kurz und wir gingen zu den anderen zurück. Mit einem Lächeln im Gesicht verabschiedeten sie sich von uns und wir machten uns wieder auf dem Weg zurück ins Hotel.
Ich war berührt und erstaunt zugleich. Es kam mir wie selbstverständlich vor zuzuhören und ich hätte nicht gedacht, jemandem damit eine Hilfe zu sein. Dazu nichts zu sagen, keine Antworten zu haben, keinen klugen Spruch. Welch klugen Spruch könnte man schon auch sagen und welche Antworten könnte man geben? Was geschehen ist, lässt einen einfach sprachlos zurück.
Was Ruth nicht weiß ist, dass ihre Aussage mit ein ausschlaggebender Grund war, dass mir bewusst wurde, dass ich etwas tun konnte, um den Überlebenden eine Hilfe zu sein. „Zuhören“, dachte ich, „zuhören kann ich“. Wenn das schon eine große Hilfe ist, dann kann ich eine Hilfe sein. An diesem Abend fasste ich den Entschluss, etwas tun zu wollen. Als ich zurück in Wien war, bewarb ich mich als Volontärin und nicht lange darauf besuchte ich einmal wöchentlich Sophie. (von der ich schon berichtet habe: Meet #Sophie)
Zahava sollte ich ein Jahr später noch ein zweites Mal sehen. Bei Ruth blieb es leider bei dem einem Treffen. Nicht zu lange nach unserem gemeinsamen Nachmittag war sie in ihrer Wohnung gestürzt und kurz darauf verstorben. Diese Nachricht traf uns unerwartet. Sie war eine der jüngeren und noch so fit für ihr Alter. Ich hätte sie gerne noch vieles gefragt, noch vielen Erzählungen gelauscht und noch einige ihrer Lieblingsplätze kennengelernt. Nach Ruths Tod war Zahava nicht mehr dieselbe. Der Verlust ihrer Freundin hinterließ eine große Leere, die nichts mehr zu füllen vermochte.


ז״ל
Möge ihr Andenken gesegnet sein.
© Sabine Bruckner
Liebe Sabine, deine Erzählungen berühren mich immer wieder sehr. Ja, zuhören und es aushalten können, wenn jemand Schweres erlebt hat, ist ein große Gabe. Das können nur sehr wenige Menschen.
❤ Marie
Danke dir sehr für deine lieben Worte!
Herzliche Grüße, Sabine
Dies ist einer dieser Beiträge, die sehr wertvoll und wichtig sind, obwohl man nicht wirklich weiß, was man sagen soll. Wie die Erzählungen der beiden Damen, so hinterlässt mich auch dein Text ein wenig sprachlos und ein wenig ratlos zurück. Obwohl der Kopf rattert und die Worte und Geschichten noch lange nachwirken werden.
Kasia
Liebe Kasia, ich war auch oft sprachlos über die Jahre und ich kenne das Gefühl sehr gut, das einem viel durch den Kopf geht, sich dort vieles bewegt, aber einem die Worte fehlen. Es braucht vielleicht auch oft keine weiteren Worte. Viele der Überlebenden haben erst am Ende ihres Lebens begonnen ihre Geschichten zu erzählen. Sie wollten, das sie nicht vergessen werden und so etwas nie mehr passiert. Sich ihrer zu erinnern und ihren Geschichten Raum zu geben erfüllt ihren Wunsch, auch ohne weitere Worte.
Liebe Grüße, Sabine
Ja, so ist es. Meinem Freund und mir ist einmal eine alte Dame begegnet. Als wir an einem der Außentische des Hotelrestaurants saßen, stellte sie sich zu uns an den Tisch und begann nach einem kurzen Einstieg, ihre Geschichte zu erzählen. Einfach so, ohne uns zu kennen, erzählte sie und erzählte. Wie der Krieg verlief, was sie erlebt hat, was die russischen „Befreier“ mit ihr und den Frauen gemacht haben. Wir saßen nur da und, ja… Ich denke, es spielte für sie keine Rolle, ob sie uns kannte oder nicht. Das Erzählen an sich war das, worum es ging und ich glaube, es hat ihr gut getan.
Genau so ist es. Da wären wir wieder beim zuhören. Oft unterschätzt man, wie sehr man jemanden hilft, indem man mit Interesse und Bereitwilligkeit zuhört. Im Grunde möchte jeder gehört werden, was in unserer „lauten“ Zeit immer schwieriger zu werden scheint. Menschen mit offenen Ohren sind daher vielleicht oft wichtiger als Menschen mit offenem Mund. 😉
Du hast Recht 🙂
Ich fühlte mich berührt von dieser Erzählung und empfinde es als Perver wie man Menschen als Versuchskaninchen missbraucht und wahrscheinlich auch heute noch unter anderen Umständen missbraucht.
Gruß Michael